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„Du Autist*in!“ Keine Beleidigung – eine Diagnose


Wir befinden uns mittlerweile im Jahr 2021 und müssen immer noch für die selbstverständlichsten Dinge auf die Straßen gehen und demonstrieren. Es muss sich für die Rechte und Akzeptanz der LGBTQ+ Community eingesetzt werden und erst vor kurzem zogen allein in Hamburg schon 14.000 Menschen los in die Innenstadt um klarzustellen: „Black Lives Matter“. Diese Themen sind zurecht viral gegangen und man kämpft aktiv gegen Probleme dieser Art. Doch in unserem Alltag machen wir auch andere, klein scheinende Fehler, die bei anderen aber große Trauer und Selbstzweifel auslösen können; denn wir nutzen psychische Erkrankungen (von denen Mitmenschen aus unmittelbarer Umgebung betroffen sein könnten) aus, um Nicht-Betroffene zu beleidigen. Viele von euch denken jetzt vermutlich, ihr gehört nicht zu den Menschen, die Wörter so dermaßen falsch und ignorant verwenden. Aber bei Beispielen wie „Behindert“, „Spasti“, „ADHS-Gestörte(r)“ oder „Du Autist*in“ erkennt man seine eigene Wortwahl meist wieder. Doch um zu erkennen, wo der Fehler dabei liegt, solche psychischen Störungen als Beleidigung zu benutzen, wäre es hilfreich erst mal zu verstehen, was hinter diesen eigentlich steckt. Dementsprechend dient dieser Artikel zur Aufklärung über die psychische Entwicklungsstörung „Autismus“ und als Aufruf nachzudenken, bevor man willkürlich Wörter benutzt, um andere runter zu machen.

Weltweit gibt es etwa 52 Millionen Autist*innen, doch bei jeder einzelnen dieser Personen äußert sich der Autismus komplett individuell. Es gibt so gesehen also 52 Millionen verschiedene Arten von Autismus. „Gleich-autistische“ Menschen gibt es nicht, denn die Ausprägung der vielfältigen Symptome sind unterschiedlich stark und bei jedem anders kombiniert.

Man spricht mittlerweile von einer Autismus-Spektrums-Störung, weil bisher benutzte Unterteilungen von „Autismus-Arten“, wie Asperger, frühkindlicher und atypischer Autismus, viel zu pauschal waren und den unterschiedlichsten Ausprägungen nicht gerecht wurden. Trotz allem gibt es natürlich Symptome des Autismus-Spektrums, die dazu führen, dass man die Entwicklungsstörung überhaupt definieren und diagnostizieren kann. Zu diesen gehören:

- bestimmte Interessengebiete, die einen besonders begeistern

- soziale Beeinträchtigungen

- Besonderheiten in der Wahrnehmung

- Bedürfnis nach Routine

- Schwierigkeiten in der Kommunikation

Autistische Menschen können von allen diesen Symptomen sowohl alle, als auch nur paar wenige haben, die dann aber stärker ausgeprägt sind. Gut ist es mit dem derzeitigen Corona Virus zu vergleichen: Das Virus kann zu vielen verschiedenen Symptomen führen. Doch während eine Person beispielsweise Hals- und Kopfschmerzen hat, leidet eine andere unter Geruchs- und Geschmackssinns-Verlust und Gliederschmerzen. Es gibt natürlich auch Überschneidungen und verschiedenste Kombinationen. Dennoch kann man bei jedem durch einen Test von dem gleichen Virus reden.

Die Vielfalt der verschiedensten Ausprägungen von Autismus kommt der des Corona Virus nahe. Doch die Diagnose von Autismus folgt nicht auf irgendwelche Tests, sondern nur auf Beschreibungen von Verhaltensweisen. Somit gibt es kein einheitliches Diagnose-Verfahren. Und bei den Beschreibungen der Verhaltensweisen einer Person müssen, um von Autismus ausgehen zu können, folgende vier Auffälligkeiten enthalten sein, die jeder Autist/jede Autistin hat. Dabei ist es aber wichtig zu wissen, dass selbst diese vier grundsätzlichen Auffälligkeiten von Autist*in zu Autist*in anders ausgeprägt sind. Zudem benutze ich für ein besseres Verständnis die fiktive Person „Sheldon Cooper“ aus der Serie „The Big Bang Theory“, die auch Autismus hat, als ein Extrem-Beispiel. 

Vier grundsätzliche Auffälligkeiten, die jede als autistisch diagnostizierte Person hat:

  1. - Mangelhafte Fähigkeit zur Deutung sozialer und emotionaler Signale
    - Schwierigkeiten mit Empathie, Gruppengesprächen, Verständnis von Humor, Sarkasmus und Ironie
    Beispiel: In „The Big Bang Theory“ wurde es zum Running Gag, dass Leonard (Sheldons bester Freund) sarkastische Aussagen macht, die Sheldon aber erst nach einer Erklärung versteht.

  2. - verzögerte Sprachentwicklung
    - Kommunikation mit Mitmenschen muss von ihnen gelernt werden (Mimik, Gestik)
    - können oft nicht einschätzen welche Bemerkungen bei einem Gespräch angemessen sind
    Beispiel: Sheldon macht gemeine Bemerkungen über neue Frisuren seiner Freunde, ist sich dabei aber nicht bewusst, dass es verletzend sein könnte.

  3. - Bedürfnis nach Organisation, Planung, Routinen
    - Spontanität und unvorhersehbare, ungewohnte Situationen führen zu Stress oder sogar Wutanfällen
    Beispiel: Sheldon hat einen Mitbewohner und plant sogar, wer um wie viel Uhr und wie lang auf Toilette gehen darf. Außerdem hat er in seiner Wohnung einen festen Sitzplatz. Dort darf nur er sitzen. Wenn eine anderen Person da sitzt, wird er wütend, da er aus Gewohnheit nirgendwo anders sitzen kann.

    - große Begeisterung in bestimmten Interessengebieten 
    Beispiel: Sheldon liebt Comics und die Physik.

  4. - ungefilterte Wahrnehmung, Überladung von Sinneseindrücken
    Beispiel: Wenn eine autistische Person mit einer nicht-autistischen Person im Café sitzt, kann die nicht-autistische Person Geräusche und Unterhaltungen von anderen Menschen ausblenden. Der/Die Autist*in erlebt jedoch eine Überladung von Sinneseindrücken, was zu Stress führt. 

Autismus kann nicht geheilt werden, doch man kann die Symptome verringern, in dem man früh genug anfängt, den Betroffenen etwas beizubringen, woran es ihnen mangelt. Beispielsweise wird die Deutung von Gesichtsausdrücken Kindern mit Autismus beigebracht.

Außerdem können auf diese psychische Erkrankung oftmals auch Begleiterkrankungen folgen, wie zum Beispiel Zwangs-, Angst- und Essstörungen, AD(H)S oder Depressionen. Autistische Personen sind anfälliger für psychische Störungen, aufgrund des Umganges mit ihnen (teilweise auch Mobbing) und der Versuchungen sich nicht-autistischen Leuten anzupassen.

Und genau weil alle Menschen, die nicht von Autismus betroffen sind, und „Du Autist*in!“ als Beleidigung benutzen, denken Autist*innen, es sei etwas Schlimmes, so zu sein, wie sie sind. Sie fühlen sich nicht akzeptiert und akzeptieren sich und ihre Stärken und Schwächen somit selbst nicht mehr. Das führt zu Selbstkomplexen und Trauer bis hin zu Depressionen (oder anderen Erkrankungen). Doch wenn jede(r) Einzelne auf seine/ihre Wortwahl achtet, sich über Bedeutungen von Begriffen und Hintergründen von Menschen informiert, können sowohl Begleiterkrankungen, als auch bereits Trauer und Selbstzweifel der Autisten und Autistinnen vermieden werden. Dies gilt allerdings natürlich nicht nur für diese eine psychische Entwicklungsstörung, sondern auch für alle andere Erkrankungen. Egal ob psychisch oder physisch. An dieser Stelle möchte ich einen kleinen Teil von Shakespeares berühmtester Aussage zitieren:

„Before you speak, listen.

Before you write, think.“

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